mit Beiträgen zu Themen über Glaube, Kunst, Geschichte und Kultur

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Orthodoxes Leben ist ein christlich-orthodoxes Kulturjournal mit Beiträgen zu Themen über den Glaube, Kunst, Geschichte und Kultur. Wir wollen unterhalten, aber auch Stoff zum Weiterdenken anbieten. Neue Artikel erscheinen zunächst im Bereich Aktuelles und werden nach einiger Zeit in den entsprechenden Rubriken archiviert.

 

Viel Spaß beim Stöbern und Entdecken!

 

Quelle: pixabay.com
Quelle: pixabay.com

Die Ikone in der Moderne – Möglichkeiten einer Begegnung zwischen Orthodoxie und Avantgarde

 

Im Zeitalter der Postmoderne mit ihrer Patchwork-Religiosität,  in der sich die Sehnsucht nach dem Religiösen unterschiedlicher Projektionsflächen und Ausdrucksmittel bedient, hat auch die orthodoxe Ikone seit rund 100 Jahren im Westen Konjunktur.

 

Der Begriff „Ikone“ leitet sich vom griechischen Wort „Eikon“  für Bild, Abbild oder Ebenbild ab. Gemäß dem orthodoxen Verständnis vollzieht sich die Ikonenmalerei  als ein geistliches Werk. Die orthodoxe Ikone ist weniger Kunstwerk als ein gemaltes Gebet. Das malerische Schaffen einer Ikone - in der Orthodoxie spricht man lieber von „schreiben“ - vollzieht sich deshalb nach strengen, kirchlich normierten Regeln. Die orthodoxen Ikonenmaler sind deshalb durch die überlieferten Vorschriften der Malerhandbücher an eine festgelegte Motivik gebunden. Im Bereich der Motivik ist der Ikonenmaler - oder besser der Ikonenschreiber - zwar durch die kirchliche Tradition gebunden, aber dadurch werden seine gestalterischen Möglichkeiten keineswegs auf das bloße Kopieren vorgegebener und tradierter Vorlagen beschränkt.

 

Diese Orientierung der orthodoxen Ikone an der kanonischen Festlegung in Komposition und Farbgebung, also die Anwendung der geistlichen Bedeutungsperspektive macht die orthodoxe Ikone erst zum kirchlich-religiösen Zeichen und damit zu einem Medium des Gebetes, durch das das Göttliche Sein für den Gläubigen im Schauen erfahrbar wird. Die Göttliche Gegenwart wird durch die kirchlich normierte Darstellung der Ikone für den Beter in sinnlich stellvertretenden Erscheinung erfahrbar. Zudem gewährleistet die gebotene Standardisierung der Bildsprache und die Verwendung der sakralen Ausdruckschiffren, dass die e kirchlichBildsprache der Ikonen überall und von jedem orthodoxen Gläubigen gelesen werden kann. Innerhalb des kirchlich vorgebenen Farb- und Formenkanon steht dem jeweiligen Ikonenmaler aber die Variationsmöglichkeiten des ästhetischen Kanons zu freien Verfügung, den neuzeitliche Ikonenmaler, wie zum Beispiel Vater Georgij Kroug (1908-1969), der über 550 Ikonen und Ikonen-Freskos vor allem in Frankreich geschaffen hat, souverän zu nutzen wissen.

 

Durch die Arbeiten von Vater Georgij wurde die russische Ikonenmalerei, die sich in der Zeit vom 18. bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts unter der Dominanz der akademisch-westeuropäischen Malweise gestanden hatte, durch eine erneute Hinwendung und Wiederentdeckung der altrussischen Ikonenvorbildern erneuert. Gerade die lichtdurchscheinende Transparenz seiner Malweise und seine impressive Linienführung zeigen, dass es in der orthodoxen Ikonenmalerei nicht um ein stumpfes Kopieren des Vorgegebenen, sondern um eine lebendige Tradition, also eine gelebte und geistlich fruchtbare Adaption der kirchlichen Überlieferung handelt, die dann durch die "zeitlos-zeitgenössische" Ikone zum heutigen orthodoxen Gläubigen ganz unvermittelt zu sprechen vermag.

 

Der orthodoxe Mönch und Ikonenmaler Georgij Kroug  erlernte die orthodoxe Maltradition bei den Ikonenmalern Sergej Fyodorov, Dimitri Stelletsky and Julia Reitlinger (Schwester iJean). Während die Ikonen von Vater Georgi ganz den Darstellungs- und Gestaltungsprinzipien der klassischen, vor allem aber der mitelalterlichen russischen,  Ikonenmalerei verpflichtet blieben, gelang es ihm jedoch gleichzeitig auch zu einer ganz eigenen Ausdrucksweise  dieser kirchlichen Prinzipien zu finden. So hat er Ikonen geschrieben, die in ihrem geistlichen Ausdruck einzigartig sind. Vater Georgij´s Interprätation der Ikonen entspricht zugleich ganz dem genuin orthodoxen Traditionsverständnis: Den Schatz der ererbten Überlieferung für die Gegenwart geistlich fruchtbar zu machen. Hier hebt er sich positiv von einer gerade heute in Russland weitverbreiteten Auffassung der orthodoxen Ikonenmalerei ab, die die Aufgabe des Ikonenschreiber allein in einer möglichst genauen Kopie der Vorlage erblickt. Vater Georgi hat mit  seinen Ikonen die tiefe Geistigkeit der russischen Ikonenmalerei nach Westeuropa getragen. Dabei gelang es ihm auch, diese Geistigkeit in seinen gleich gemalten Gebeten  gestalteten Ikonen so zum Ausdruck zu bringen,  dass er Ikonen geschrieben hat, die stilistisch ganz einzigartig sind. In ihrer von einer transzendent durchscheinenden Farbigkeit und einer besonders impressiven Linienführung geprägten Komposition hat dieser orthodoxe Mönch das innere geistliche Leben der Orthodoxie für das moderne westliche Empfinden nachvollziehbar gemacht hat.  Vater Georgij verbrachte sein monastisdches leben in der Skite zu Ehren des Heiligen Geistes (Skit du Saint-Esprit) in der Nähe von Mesnil-Saint-Denis in Frankreich) wo er im Jahr 1969 im Herrn entschlafen ist. 

 

 Vor allem durch die Leuchtkraft ihrer Farben stehen die orthodoxen Ikonen in einer gewissen Nähe zur modernen impressionistischen und nach-impressionistischen Malerei. Zweifelsfrei gehört die Strahlkraft, die „Modernität“ der Farben zu dem, was die Ikonen für den heutigen Menschen besonders anziehend macht. Ein Zweites ist die ungewohnte Intensität der Darstellung. Mit ihrer ganz anderen Raumperspektive eröffnet die Ikone einen Innenraum und nimmt den Betrachter mit auf eine Reise in die Welt des Glaubens.

 

Die Ikone will in ihrem gestalterischen Aufbau nicht erzählen. Im Grunde will sie auch nicht belehren, sondern sie will vielmehr gegenwärtiger Anruf des Göttlichen sein. Hierin besteht auch ihre große Nähe zur Heiligen Schrift. Auch das Wort Gottes will nicht erstrangig informieren, in der Regel auch nicht argumentieren, sondern die Gegenwart des Heils verkünden.

 

Orthodoxe Christen haben es zu allen Zeiten so gesehen. Für den Gläubigen sind die heiligen Ikonen wirkmächtige Zeichen des Heils. Sie vergegenwärtigen durch irdische Zeichen Christus, die allheilige Gottesgebärerin und die heiligen Engel und Heiligen, aber auch die Heilstaten des Evangeliums.

 

Die Ikone besitzt für den Gläubigen einen sakramentalen Charakter. Für den orthodoxen Christen ist eine Ikone nicht einfach nur ein Bild Christi, der Engel und Heiligen oder der Auferstehung, das ohne Zusammenhang mit der kirchlichen Heilserfahrung eine rein künstlerische Interpretation des Glaubens oder der evangelischen Berichte ist, sondern sie „lesen“ das vom Ikonenmaler geschriebene Evangelium mit der gleichen Herzensinnigkeit, mit der sie auch während der Göttlichen Liturgie die Worte des Evangeliums vernehmen.

 

Für die orthodoxen Gläubigen sind das Wort des Evangeliums und das Bild der Ikone gleich-rangige und gleich-richtige spirituelle Zugang zum Heil. sie werden beide als ein Fenster zum Himmel und zur erlösenden Wirklichkeit in Christus verstanden, die sich nur für den glaubend Hörenden und Sehenden eröffnet.

 

In ihrer geistigen und geistlichen Symbolsprache der festgelegten Farben und Gesten sowie ihrer „umgekehrten Perspektive“ ist die orthodoxe Ikone weit entfernt vom anschaulichen Realismus der abendländischen Malerei seit der Hochgotik und Rennaisance.

 

Die Malweise der Ikonen ist flächig. Sie ist zweidimensional ohne den illusionistischen Versuch, durch Perspektive  eine dritte Dimension zu erschaffen. Auf den Ikonen gibt es keine Schatten. Statt der abendländischen Fluchtpunktperspektive herrscht die sogenannte „umgekehrte Perspektive“ vor, wodurch die gesamte Darstellung gleichsam aus der Mitte der Ikone hervorgeht.

 

Das Licht, das bei Christi Auferstehung oder Seiner Verwandlung (Verklärung) auf dem Berg Tabor von Ihm ausgeht, wird nicht als naturalistisch helle Aura dargestellt, sondern als konzentrische Kreise von abnehmend weißer Farbe hin zu dunklem Blau.

 

Diese Darstellung wiederspricht unserer gewohnten, das heißt, natürlichen menschlichen Erfahrung. In der Ikonenmalerei geht es aber gerade nicht um die Darstellung religiöser Sujets inmitten eines gewohnten weltlichen Erfahrungszusammenhangs, sondern um eine Verbildlichung der kirchlichen Glaubenserfahrung.

 

Wenn die Darstellung des Lichtes zur Lichtquelle hin dunkler wird, also als „überlichtes Dunkel“ erscheint, so entspricht dies der orthodoxen Glaubenserfahrung des gänzlich andersartigen, in seinem Wesen für uns unzugänglichen und somit nicht definierbaren Gott, über den wir nur in apophantischen Kategorien, jedoch nicht mit den Mitteln rationaler Spekulationen, wie es die westliche Theologie seit der Scholastik versucht, sprechen können.

 

Im Gegensatz zu den aus der protestantischen Reformation hervorgegangen Glaubensgemeinschaften ist die Selbstoffenbarung Gottes durch die Inkarnation des Göttlichen Sohnes nicht auf die Dimension des evangelischen Wortes beschränkt. Ein „Solus Sciptura“ – eine Selbstoffenbarung Christi allein im Wort der Heiligen Schrift  - kann es für die orthodoxen Christen nicht geben. Das orthodoxe Verständnis von Christus als des menschgewordenen Logos Gottes bleibt also nicht auf die Dimension des hörbaren Wortes beschränkt. Genauso wie die Worte des heiligen Evangeliums über das Medium des gläubigen Hörens den Glauben erwecken, so vermitteln die heiligen Ikonen im gläubigen Schauen den gleichen Zugang zur Dimension des in Jesus Christus zu uns gekommenen Heiles. Während für westlichen Christen die Heiligenbilder nur eine didaktische Funktion besitzen, haben die heiligen Ikonen für die orthodoxen Christen einen weitaus tieferen, vor allem im geistlichen Schauen und der kirchlich-gottesdienstlichen Erfahrung begründeten Sinn. Auch wenn das traditionelle katholische Glaubensleben durchaus die Erfahrung des Gnadenbildes mit der Orthodoxie teilt, so versteht auch das Konzil von Trient die kirchlichen Bilder vor allem im erläuternd-didaktischen Sinn als pädagogische Illustration der Heiligen Schrift.

 

Die Gottesbegegnung bleibt immer ein Mysterion des Glaubens und nicht der rationalen theologischen Spekulation.

 

Auch die orthodoxe Ikone bleibt immer im Glauben lesbares Symbol der geistlichen und himmlischen Wirklichkeit, das dafür die Mittel einer fest tradierten Zeichensprache verwendet.

 

Damit entgeht die Ikone den anschaulich-sinnlichen Illisionismus, der  die abendländische Malerei seit der Renaisance erfüllt. So stehen, trotz gewisser Parallelen die orthodoxen Ikonen und die Bildwerke der Moderne in einem Widerspruch.

Dem „nicht von Menschenhand geschaffenen“ Christusbild der  Ostkirche steht hier das von subjektiver Hand einer Künstlerpersönlichkeit geschaffene westliche Werk gegenüber. Wo die Ikone einen festen und unveränderten Farb- und Formenkanon folgt, betont das moderne westliche Bild, also auch die moderne katholische und evangelische Kirchenkunst, gerade seine Vieldeutigkeit und Offenheit.

Zugleich versteht man unter einer „Ikone“ heute umgangssprachlich nicht mehr allein die Ikonen der christlich-orthodoxen Kirche, sondern vor allem auch die Bildzeichen der modernen Massenkultur und vor allem ihrer Konsumwerbung.

 

Beide Arten des Ikonenverständnisses werden in der neueren Kunstreflexion aufgegriffen: Kunst wird hier entweder verstanden als „Erbin“ der religiösen Ikone, also als ein Phänomen, das Absolutes in singulärer Weise anschaulich erfahrbar machen will, oder aber die Kunst gilt umgekehrt lediglich als malerisches Ausdrucksmittel einer Welt, von dem die säkularen „Ikonen“ und Symbole nur Teilbereiche darstellen.

 

Insofern umfasst die moderne Kunst sowohl Aspekte transzendenter Kunstauffassungen, die von der klassischen Ikonenkunst der orthodoxen Kirche durchaus inspiriert werden können, ohne dass die dabei entstehenden künstlerischen Bildwerke damit den Rang einer orthodoxen Ikonen erreichen könnten oder müssen, anderseits aber auch die rein innerweltlich-immanente Kunstauffassung, die für die Orthodoxie immer die Gefahr des vergötzten Idols in sich trägt.

Dieses  spannungsvolle Kontrastverhältnis ist vor allem in der Funktion der Ikone als einem bildhaftem Zeugnis der Menschwerdung Gottes begründet.

 

Zugleich ist die orthodoxe Ikone immer bleibende Anfrage gegenüber einen protestantischen Biblizismus, der den christlichen Glauben auf ethische oder theologische Begriffe reduzieren und in einer Summe abstrakter Wahrheiten einfangen will.

 

Wie die Mysterien der Heiligen Schrift, die die drei Personen (Hypostasen) des dreieinigen Gottes unterscheiden, zur Zeit des Alten Testamentes nur den heiligen Propheten und denjenigen bekannt waren, die ihren inspirierten Worten Glauben schenkten, so werden die Geheimnisse des Glaubens nur auf mystische Weise erkannt, wenn wir die Worte der Heiligen Schrift hören und das Heilsmysterium vermittels der heiligen Ikonen geistlich schauen.

 

Die Heilige Schrift und die heilige Ikone stehen wiederum in einem unaufhebbaren Verbindung, denn nicht der Maler erschafft die orthodoxe Ikone, sondern die Heilige Schrift. Insofern ist die Ikone ein gemaltes Evangelium, das zu unseren Augen spricht, wie es die Heilige Schrift zu unseren Ohren tut.

 

In  der Theoria, das ist gläubigen Betrachtung und Annahme des christlichen Heils im Inneren des Gläubigen, treffen sich beide. Wie die "überintellektuellen" Mysterien der Kirche, also die heiligen Sakramente, nicht durch unsere Vernunftserkenntnis erlernt werden können,  sondern allein der geistlichen Erfahrung des orthodoxen Gläubigen durch das Wirken des Heiligen Geistes zugänglich sind, so können die heiligen Ikonen auch nur dann recht erfasst werden, wenn sie nicht als innerweltliche oder exotische Kunstwerke, sondern als Mittel des Umgangs mit Gott begriffen werden.

 

Das sich hierin offenbarende Kontrastverhältnis zwischen innerweltlicher moderner Kunst und orthodoxer Ikone bleibt am Ende nicht aufhebbar, da jede Ikone den Betrachter dazu aufruft, das egozentrische Leben, den alten Menschen zu überwinden und zurückzulassen. Insofern gleicht jede orthodoxe Ikone in ihrem zeitlosen geistlichen Anruf dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, der umkehrte, um vom Tode zum Leben zu gelangen.

 

Thomas Zmija v. Gojan

 

Quelle: https://de.freepik.com
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Der Ikonenmaler aus der Ukraine

Ein Besuch bei einem Mann, der für die Orthodoxe und Katholiken in Bayern Ikonen malt.

 

Er trägt einen dunklen Wollpullover. Ein blonder Bart und zu einem Zopf zurückgenommenes Haar umrahmen ein Gesicht. Freundlich und ruhig blicken seine grauen Augen. Wasilij grüßt freundlich aber zurückhalten seinen Gast. Will sein scheues Lächeln die Traurigkeit in seinem fragenden Blick verbergen? Vasilij Romanjuk ist vierzig Jahre alt. Über ein Jahr schon ist er schon in Deutschland. Seitdem hat er seine Frau und seine zwei kleinen Söhne nicht mehr gesehen. Sie leben noch immer in Donezk, ganz in der Nähe des kleinen Dorfes im Osten der Ukraine, das einmal ihre Heimat gewesen war.

 

Im März und April 2014 waren sie plötzlich aufgetaucht. Bewaffnete Männer – sogenannte russische Freiheitskämpfer. Diese Milizionäre, übernahmen jetzt schrittweise, aber konsequent die Macht im Donbass. Sie wurden massiv mit Waffen und Soldaten ohne Hoheitsabzeichen aus Russland unterstützt. Sie haben jetzt das Sagen im Industriegebiet im Südosten der Ukraine, in der Selbsternannten Volksrepublik Donezk und Lugansk. Mit ihnen kam zugleich Gewalt und Krieg in den Südosten der Ukraine. Granaten und Raketen zerstörten fast alle Häuser im Dorf. Doch die Menschen hielten weiter im Ort aus. Der Donbass ist doch noch immer ihre Heimat.

 

Jetzt kämpfen sie hier, verbissen ineinander in einem Stellungskrieg: die ukrainische Armee gegen die selbsternannten Milizen der Seperatisten. Diese werden durch Freiwillige, Bewaffnete in Uniformen ohne Hoheitsabzeichen aus Russland, unterstützt. Es geht wie immer im Krieg um ganz hohe Politik: um Selbstbestimmung und Unabhängigkeit auf der Seite der prorussischen Seperatisten. Um die innere und äußere Souveränität des jungen Staates Ukraine und die Verhinderung weiterer Territorialverluste auf der anderen Seite.

 

Im Februar 2014 waren sie bereits überraschend auf der Halbinsel Krim aufgetaucht. Russische bewaffnete Einheiten, die an ihren Uniformen keine Hoheitsabzeichen trugen. Sie hatten die bis dahin zur Ukraine gehörende Halbinsel militärisch besetzt und Parlament und Regierung der Autonomen Republik am Schwarzen Meer übernommen. Am 17. März 2014 fand dann ein fragwürdiges Referendum statt. Eine  Mehrheit der Krimbevölkerung sprach sich für den Anschluss an die Russländische Förderation aus. In wieweit sich hier der Wille der Bevölkerung ausdrückte? Wer weiß es wirklich. Gewalt und Angst sind keine guten Rahmenbedingungen für eine freie Entscheidung.

 

Wenige Tage später wurde die Krim dann mit einem Festakt im Kreml, bei dem Putin seine Sicht der Dinge vortrug, heim nach Mutterchen Russland geholt. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg annektierte damit ein europäischer Staat wieder Territorien, die zu einem Nachbarland gehörten. Es war ein eklatanter Bruch des Völkerrechts und mehrerer bilateraler und internationaler Abkommen, mit denen Russland die Territoriale Integrität der Ukraine garantiert hatte. Hier zeigte sich offen der gewalttätige Freiraum der Mächtigen. Und dann begann es: Tataren und Ukrainer begannen von der Krim zu fliehen. Sie verließen ihre Heimat und gingen zuerst in den Westen des Landes und dann auch nach Westeuropa. Flüchtlinge und Entwurzelte, denen von den Mächtigen der Freiraum zum selbstbestimmten Leben genommen wurde. Wer sich nicht zu den neuen Machtverhältnissen bekannte, musste am Ende gehen. Freiraum gab es auf der Krim nur noch für die Anhänger der russischen Option.

 

Und jetzt waren Gewalt und Zerstörung nach Zahoriv, den kleinen Dorf im Donbass gekommen. Granaten und Raketen hatten die Früchte Jahrzehnte langer Arbeit zu grauem Staub werden lassen. Zuerst waren die Kastanien und Pappeln entlang der Dorfstrasse zersplittert, dann zerfielen unter Raketen und Granatenbeschuss die weißgetünchten Bauernhäuser zu grauen Staub. Tagtäglich fiel die Zerstörung in das Dorf ein, während die Menschen in ihren Kellern ausharrten. Am Ende war er gegangen, nachdem er seine Frau und Kinder zu den Schwiegereltern nach Donezk gebracht hatte. „Manchmal ist es auch dort gefährlich“, erklärt mir Wassilij mit erstaunlicher Ruhe. Sein Deutsch ist dafür, dass er erst so kurz bei uns ist, schon ganz passabel. Bei den komplizierteren Antworten helfen wir uns, indem wir russisch miteinander sprechen: Er der russischsprachige Ukrainer und ich dessen Vater Ukrainer und dessen Mutter Russin ist.

 

Natürlich macht er sich Sorgen. Als er das Foto von seiner Frau mit dem fünf und drei Jahre alten Söhne auf dem Display seines Smartphones zeigt, verstummt kurz sein ruhiger Redefluss. Er muss schlucken. Ehe er die Bilder der Familie aus der Datei aufgerufen hatte, habe ich das Hintergrundbild des Displays gesehen: Eine Ikone der Gottesmutter von Potschaew. Still lächelt die Presvataja, die Allheilige hinter den Icons auf dem Display hervor. Vasilij ist orthodoxer Christ; ein Gläubiger mit einer besonderen Gabe. Vasilij ist orthodoxer Ikonenmaler. Er malt - im orthodoxen Kontext spricht man lieben von „schreiben“ – Ikonen im nordrussischen Stil. Hier herrschen eher die Erdfarben vor. In  Ocker und Braun, in Grün und Rot wird das Antlitz Christi und seiner Heiligen nach den strengen Regeln der orthodoxen Kirche abgebildet. Gold verwende ich nur für den Nimbus, die Heiligenscheine. Sie deuten auf die himmlische Sphäre hin. Vasilij arbeitet für orthodoxe Christen, Ukrainer wie Russen gleichermaßen, aber auch für Katholiken. Ich schreibe mit jeder Ikonen einen Brief im Auftrag Gottes. Die Arbeit und das Werk sind ein Gebet.

 

Hinter uns in einer Ecke des Zimmers in der kleinen Einzimmerwohnung in Ingolstadt leuchten golden die orthodoxen Heiligenbilder. Davor glimmt still der Docht im rubinroten Glas einer Ewig-Licht-Ampel. Es sind die heiligen Ikonen; orthodoxe Heiligenbilder, die die orthodoxen Gläubigen als Fenster zum Himmel verstehen. Durch sie ist Gott und seine Heiligen den Menschen ganz nah, ja physisch präsent. Die Ikonen sind gemalte Gebete. Heilige Briefe von Gott an die sie betrachtenden Menschen, deren Absender für den Ikonenmaler Vasilij Gott selbst ist. Vasilij lächelt und fragt mich dann leise: „Wer bin den ich um als Schreiber zu entscheiden, an wen Gott seine Erlösungsbotschaft richten will?“

 

Vasilij fasst die theologischen Kerngedanken, die mit den heiligen Ikonen in der orthodoxen Kirche verbunden sind, in einem kleinen Vortrag für uns zusammen: „Die Ikonen repräsentieren die christlichen Glaubenswahrheiten und vergegenwärtigen sie. Nicht die heiligen Ikonen an sich werden verehrt, sondern durch die Ikone hindurch wird die so dargestellte und erfahrbare Glaubenswahrheit verehrt. Die eigentliche theologische Begründung hat uns der heilige Johannes von Damaskus gegeben: Sie liegt in der wirklichen Menschwerdung Gottes im Sohn und Logos, der zweiten Person der heiligen Dreieinheit begründet. Durch die Menschenwerdung des Gottessohnes in Jesus Christus ermöglicht Gott selbst die bildliche Darstellung. Das alttestamentliche Bilderverbot wurde also von Gott selbst durch seine Menschwerdung durchbrochen. Die Art der Darstellung ist deshalb auch nicht beliebig. Der menschgewordene Gottessohn ist gewissermaßen die Ur-Ikone. Nach dem Glauben der orthodoxen Kirche bildete Christus selbst im Christusbild von Edessa, in der Orthodoxie Mandylion genannt, auf wundersame Weise sein Antlitz ab. Deshalb bildet das Mandylion den Ausgangspunkt für alle anderen Ikonen-Darstellungen Christi. Es gilt in der orthodoxen Kirche als das Nicht-von-Menschenhand-gemachtes Bild des Erlösers, das treu wiedergegeben werden muss. So gesehen sind die heiligen Ikonen Vermittler zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und den gläubigen Menschen. Die orthodoxen Ikonen sind daher auch keine Kunstwerke, die als Interpretationen der Heilsgeschichte durch einen Künstlers verstanden werden könnten. Der heilige Photios sagt, dass die Kunst der Ikonenmalerei vom Gott inspiriert ist, dass die Hand des Malers des Heiligen vom Himmel her geführt wird und dass alle Wunderwerke, die die Ikonenmaler aller Zeiten erreicht haben, eine charismatische Frucht des Wirkens des Heiligen Geistes sind. Ihre Themen schöpft die Ikonenmalerei aus dem Alten und Neuen Testament, und dem Leben der Heiligen. Sie wird als ein heiliges Handwerk bezeichnet, weil sie heiligen Personen und heilige Ereignisse darstellt. Deshalb soll die orthodoxe Ikonenmalerei gemäß der kirchlichen Überlieferung die darin enthaltenen Glaubenswahrheit getreu wiedergeben. Die heiligen Ikonen haben im Gegensatz zur abendländischen Sakralkunst keinen illustrativen oder dekorativen Charakter. Sie sind keine katechetische Biblia Pauperum. Die tragbaren Ikonen, die Mosaiken, und die Wandmalereien, ja die gesamte Ausstattung einer orthodoxen Kirche, stellen für die Gläubigen vielmehr ein gemaltes Evangelienbuch dar. Durch dessen Betrachtung wird der Gläubige geheiligt und so in einen spirituellen Zusammenhang mit der Person des Dargestellten gebracht. Die Ikone ist zwar stumm, aber sie spricht zu den geistlichen Augen des Gläubigen. Der Gläubige kommt in direktem Kontakt mit dem Abgebildeten, er sieht ihn, küsst ihn mit den Lippen, mit den Augen und mit der Seele. So ist die Ikonenmalerei nicht einfach eine Art des künstlerischen Malens. Sie ist und bleibt immer eine heilige und liturgische Kunst. Die Ikonen machen die Heilstaten der Erlösung für die inneren Augen der Gläubigen präsent. Deshalb werden die Ikonen und die in ihnen enthaltenen Glaubenswahrheiten verehrt, indem man sich vor ihnen bekreuzigt, sich verneigt oder sie küsst. Bei aller Verehrung dürfen Ikonen selbst aber nicht angebetet werden, weil die Anbetung nur Gott allein gebührt. In Russland erreichte die Ikonenmalerei ihren geistlichen Höhepunkt in den Arbeiten der Ikonenmaler Theophanes, den Griechen und dem Heiligen Andrej Rubljow im 15. Jahrhundert. Ihrem Vorbild eifere auch ich in aller Bescheidenheit nach.

 

Während Vasilij das theologische Denken unserer Kirche mit leiser Stimme für uns entfaltet, untermalen im Hintergrund leise orthodoxe Kirchengesänge von einer CD aus dem Kiewer Höhlenkloster unser intensives Gespräch. Bei Vasilij laufen immer ganz leise als Hintergrundmusik die gesungenen Gebete der orthodoxen Liturgie. Nur die menschlichen Stimmen sind dann zu hören. Die Orgel als Kircheninstrument kennt die orthodoxe Kirche nicht. Vasilij sagt mir, dass die frommen Gesänge seinen Sinn auf das Geistliche orientiert halten. Dies ist notwendig, denn das Schreiben der orthodoxen Ikonen ist kein künstlerischer, sondern ein geistlicher Vorgang. Die Klänge der altslawischen Gesänge, der Kirchensprache in der der russischen orthodoxen Kirche, klingen leise durch die kleine Wohnung: „Svete Tichij, Svatija Slawi…“ „Mildes Licht heiliger Herrlichkeit…gekommen zum Untergang der Sonne, preisen wir den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist, Gott…“ gemahnen uns die Stimmen von der frommen CD an den orthodoxen Abendhymnus.

 

Auf einem niedrigen Hocker unter den Ikonen liegt eine kleine begefarbene Leinendecke. Darauf liegen ein Evangelienbüchlein in russischer Sprache und ein orthodoxes Gebetbuch in kirchenslawischer Sprache. Ebenfalls verglimmt auf einem Drahtgestell über einem Teelicht ein großes Körnchen griechischen Kirchenweihrauchs. Der weiße Rauch erhebt sich in sanften Kringeln in die Luft und erfüllt so mit süßem Blumenduft den gesamten Raum. Wer es bisher noch nicht bemerkt hat: dIe Orthodoxie ist eine Religion aller Sinne. Auf der Fensterbank steht ein Bonsai und hinter den geteilten Fensterscheiben erglüht nun rotgolden die bayrische Abendsonne an diesem schönen Frühlingstag, während das rubinrote Leuchten im Glas der Ampel vor den Ikonen in der langsam heraufziehenden Dämmerung im Raum deutlicher hervortritt.

 

Die wenigen Möbel in der kleinen Einraum-Wohnung sind modern und praktisch. Eine Staffelei und Schraubgläser mit Mineralfarben auf einem kleinen Schreibtisch dominieren den Raum. Eine Auswahl verschiedener Haarpinsel steht in einem dafür umfunktionierten Marmeladenglas. „Die Ikonen werden nicht mit Ölfarben, sondern in Ei-Tempera gemalt. In der russischen Maltradition werden sie mit Wasser verdünnt und in unzähligen Lasurschichten aufgetragen. So entsteht die besondere, sehr sanfte Wirkung der russischen Ikonen. In der griechischen Ikonenmalerei und bei den anderen orthodoxen Balkanvölkern werden weniger Malschichten verwandt und die Wirkung ist deshalb anders: Viel archaischer, asketischer und strenger“, erklärt mir der Ikonenmaler Vasilij.

 

Viel persönliche Habe begleitet Vasilij bisher nicht durch sein Exilantenleben. Aber da sind die Bücher. Sie dominieren den Raum und geben ihm einen geistigen Grundton. So erinnert mich Vasilijs kleine Wohnung an das Heim vieler alter vorrevolutionär-russischer Emigranten, die ich in meiner Kindheit und Jugend selbst noch in Deutschland und Frankreich kennenlernen durfte. So türmen und versammeln sich bei Vasilij die Bücher als ein zu erlesender Kosmos. Meist sind es russische Taschenbuchausgaben, schnell und kostensparend durch simple Leimbindung zusammengehalten. Es gibt bei Vasilij viele Bücher zu kirchlichen Themen. Orthodoxe Bücher in russischer und ukrainischer Sprache wechseln hier mit Bildbänden und Kleinschriften über verschiedene katholische Wallfahrtsorte in Süddeutschland. Auch Ausgaben russischer Schriftsteller, Zeitungen und Zeitschriften füllen die beiden kleinen Kieferholz-Regale des Raums. Darüber hinaus warten weitere Bücher, Zeitungen und Zeitschriften in im Zimmer locker verteilten Stapeln darauf gelesen zu werden. Ikea hat es mit den beiden Regalen bis in diese Ikonenmalklause in der bayrischen Industriestadt geschafft. In zwei kleinen bequemen Sesseln rund um einen niedrigen Couchtisch führen wir unser Gespräch. Auf dem niedrigen Tisch steht wie aus der Zeit gefallen eine mit kunstvollen Intarsien verzierte Holzkiste. „Eine Arbeit der ukrainischen Hozulen. Die wohnen in den waldreichen Karpaten. Deshalb sind sie große Künstler in der Holzverarbeitung. Jede Gegend hat besondere geomentische Muster, mit denen die Holzarbeiten in winterlicher Heimarbeit verziert werden. Das ist genauso wie mit den bestickten Hemden im Westen der Ukraine. Das Kästchen habe ich mal von einer Urlaubsreise dorthin mitgebracht“, erklärt mir Vasilij, als er meinen fragenden Blick in Richtung dieses kleinen hölzernen Schmuckstücks auffängt. In der kleinen Kiste befinden  sich etliche kleine Kärtchen, auf denen kurze Bibelzitate in russischer Sprache gedruckt sind. Außerdem bewahrt Vasilij darin die Photographien seiner bisher von ihm geschriebenen Ikonen auf. „Immer wenn eine meiner geistlichen Kinder in ein neues Zuhause abgeholt wird, bitte ich denjenigen, der sie mitnimmt darum, mir doch bitte eine schöne Photographie zu schicken, auf der ich sehen kann, wie die heilige Ikone nun bei ihrer neuen Familie wohnt“, erklärt mir der Ikonenmaler seine ungewöhnliche kleine Fotosammlung.

 

Neben schönen Holzkistchen liegt einem Stapel orthodoxer kirchlicher Zeitschriften, die im russischen Hiobskloster in München veröffentlich und gedruckt werden. „Die Zeitschrift „Vesnik“ – „Der Bote“ gibt es parallel in einer deutschen und einer russischer Ausgabe“, erklärt mir Vasilij. Je nachdem, welche Sprache seine Besucher verstehen würden, gäbe er ihnen eine deutsche oder russische Ausgabe der Zeitschrift mit auf den Weg. Denn so sagt er mir mit sanfter Bestimmtheit in seiner Stimme: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein!“

 

Viele nette Menschen habe Vasilij inzwischen hier in Bayern kennengelernt, versichert mir Vasilij. Besonders angetan ist er von den katholischen Ordensschwestern gleich nebenan im Pfarrhaus der katholischen Nachbargemeinde. Die hätten ihm sehr geholfen bei seiner Suche nach Arbeit bei Audi und bei der Beschaffung dieser kleinen Wohnung.  In Ingolstadt besucht Vasilij mal den Gottesdienst in der russischen Gemeinde, mal den in der ukrainischen Gemeinde der Stadt. Die beiden orthodoxen Kirchengemeinden nutzen gemeinsam ein altes Munitionshaus in den Ingolstädter Festungsanlagen. Seit den Zweiten Weltkrieg wird dort ununterbrochen orthodoxer Gottesdienst gefeiert. Vasilij findet es ein gutes Zeichen, dass die beiden Gemeinden Wand an Wand, aber unter einem Dach miteinander leben. „Wenn der Krieg in meiner Heimat einmal vorbei ist, wünsche ich mir, dass Ukrainer und Russen wieder als Brüder zusammenleben“ und er fügt, seine Hand auf meinen Arm legend, eindringlich hinzu: „Nur wer verzeihen kann, kann auch mit der Hilfe Gottes einen Neuanfang wagen. Wir sind doch alle orthodoxe Christen - Kinder einer Kirche. Wir sollten im gemeinsamen Glauben wieder zueinander finden.“

 

Überhaupt findet es Vasilij gut, dass die Menschen in Ingolstadt eher aufeinander zugehen, als sich voneinander abschotten würden. In dem Haus mit den vielen kleinen Sozialwohnungen leben Menschen verschiedenster Herkunft, Sprache und Kultur friedlich miteinander. Christen und Muslime, Iraner und Afrikaner, Asiaten und Araber. „Ich habe hier eine zweite Heimat gefunden“, so sagt mir Vasilij. Demnächst möchte er seine Frau Irina und seine Söhne Cyrill und Vsevolod nach Ingolstadt nachholen. Wieder einmal sehe ich in Vasilijs Augen unendliche Traurigkeit aufsteigen. Wieder einmal versucht er tapfer, die schweren Gedanken und die damit verbunden Sorgen um seine ferne Familie beiseite zu schieben. „Wir müssen auf Gott vertrauen. Er wird uns helfen“, sagt Vasilij mit Hoffnung in seiner leisen Stimme.

 

Vasilij hatte erst nach dem Zusammenbruch der Kommunismus für sich den orthodoxen Glauben entdeckt. Er hatte sich taufen lassen und dann am neueröffneten Seminar in Charkow mehrere Jahre Theologie studiert. Nach seinem Militärdienst in der Armee des noch jungen ukrainischen Staates habe er in einem Kloster in der Bukowina die Ikonenmalerei erlernt und danach begonnen, für orthodoxe Gläubige und Touristen Ikonen zu schreiben. Hatte Vasilij eine größere Zahl an Ikonen geschrieben, so hat er in die wichtigen ukrainischen Pilgerorte an der Kiewer und Potschajewer Lawra gebracht um seine Arbeiten vor den Toren der beiden großen Klöster anschließend zu verkaufen.

 

Als praktizierender orthodoxer Gläubiger sang Vasilij auch im Kirchenchor der neueröffneten Kirche in seinem Dorf Zahoriv. Nachdem die Kirche unter Chruschtschow in den 1950-er Jahren geschlossen worden war, hatten sie die Dorfbewohner Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus eigenhändig renoviert. Ein junger engagierter Priester war ins Dorf gekommen und das kirchliche Leben begann sich allmählich wieder zu entfalten. „Erst waren nur die Alten zum Gottesdienst gekommen, aber vor dem Bürgerkrieg war es dann praktisch wieder das gesamte Dorf“, so erzählt mir Vasilij. Mit besonderer Hingabe erlernte Vasilij mit der Zeit den Kirchengesang. Sein Gesang war so prägnant, dass er von einer evangelischen Kirchengemeinde in Straßburg eingeladen wurde, um auf einem kirchlichen Festival aufzutreten. Diese Chance zur legalen Ausreise aus dem Kriegsgebiet im Osten der Ukraine nach Westeuropa nutzte Vasilij dazu, um in Deutschland einen Asylantrag zu stellen. Zu dieser Zeit glaubte er noch, dass es nicht besonders schwer werden würde, seine Familie nach Deutschland nachkommen zu lassen. Heute aber weiß Vasilij dass dies einer besonderen behördlichen Entscheidung bedarf. Und deshalb sagt Vasilij wieder mit leiser Stimme und einem Lächeln zu mir: „Der große serbische Mönchsvater aus dem 20. Jahrhundert, der  Thaddeus von Vitonica hat gesagt, dass es letztendlich unsere Gedanken  sind, die unser Leben bestimmt. Es geht also im Kern um unserer Einstellungen, um das was uns wichtig ist; was uns durch unser Leben trägt. Insofern bleibe ich dabei: Wir müssen auf Gott vertrauen. Er wird uns helfen!“

 

Thomas Zmija v. Gojan

 

Ikone das „Große Mysterion Gottes“. Rückseite einer Prozessionsikone aus Murom 1691. Dem Ikonenmaler Alexander Kazancev zugeschrieben.
Ikone das „Große Mysterion Gottes“. Rückseite einer Prozessionsikone aus Murom 1691. Dem Ikonenmaler Alexander Kazancev zugeschrieben.

 

Die Ikone "Großes Mysterion Gottes"

 

Diese Ikone[i] zeigt eine in der orthodoxen Kirche sehe seltene Darstellung, die uns die Göttliche Liturgie, die Feier des eucharistischen[ii] Opfers deutet. In der Mitte dieser zentralrussischen Ikone aus dem 17. Jahrhundert ist Christus als das eucharistische Opfer Gottes zu sehen.

 

Während jedoch die kirchliche Kunst des Abendlandes die bildhaft-reale Darstellung Christi als Opferlamm Gottes häufig kennt, wird Christus auf den orthodoxen[iii] Ikonen in der Regel nicht in der Realtypologie des Lammes dargestellt.

 

Diese typologische[iv] Darstellung Christi im Bild des Lammes geht auf die spätantike christliche Kunst in Rom und Ravenna zurück. Hieran können wir sehen, dass gewisse ikonographische Muster zunächst nur eine lokale Bedeutung gehabt haben. Erst, wenn sie ihren festen kirchlichen Platz als Ausdruck des orthodoxen Glaubens gefunden haben, also im kirchlichen Bildkanon der heiligen Ikonen fest verankert worden sind, können wir von der Darstellung eines bestimmten Bildthemas im kirchlichen Sinn von einer orthodoxen Ikone sprechen. Deshalb werden die orthodoxen Ikonenmaler auch als malende Theologen bezeichnet. Diesen malenden Theologen ist es innerhalb der gebotenen Überlieferungstreue durchaus nicht verwehrt, immer wieder thematisch neue Akzente zu setzen und neuartige ikonographische Sujets und Motive zu gestalten. Ob diese vom kirchlichen Bewußtsein (Sobornost[v]/ Katholizität) des gläubigen Volkes als orthodoxe Ikone akzeptiert oder verworfen werden, stellt aber den entscheidenden Prozess im Verfahren der kirchlichen Rezeption einer neuen Ikonendarstellung dar. Hierfür sind nicht künstlerische, sondern allein kirchliche und theologische Faktoren entscheidend.



Anmerkungen:

[i]  Ikone von griechisch: Eikon = Bild oder Abbild. Der orthodoxe Gläubige verehrt die Ikone, betet jedoch nicht zu ihr. Die orthodoxe Ikone ist ein „Fenster zur himmlischen Wirklichkeit“. Die ihr (dem Abbild) erwiesene Verehrung geht auf das himmlische Urbild über. Ikonen sind im orthodoxen Verständnis keine Kunstwerke sondern sakrale liturgische Bilder des christlichen Heilsmysteriums. Wie die Worte des heiligen Evangeliums unseren Ohren, so verkünden die heiligen Ikonen unseren Augen das christliche Heilsmysterium. Als liturgische Bilder werden Ikonen nach einem kirchlich festgelegten Farb- und Formenkanon „geschrieben“. Zur orthodoxen Ikone werden sie durch die Ikonenweihe, die man in der traditionellen orthodoxen Theologie zu den Sakramenten zählt. Die die orthodoxe Kirche lehnt die Profansierung der Ikonen als museal ausgestellte Kunstobjekte aus theologischen Beweggründen ab.

[ii]  Eucharistie = griechisch: Danksagung.

[iii] „Orthodox“ bedeutet nicht einfach nur „rechtgläubig“, sondern vielmehr „im rechten Glauben lobreisend“ und ein „rechtes christliches Leben führend“. Orthodox zu sein ist keine theologisch formulierte Philosophie, keine religiöse Ausdrucksform einer bestimmten Ethnizität, sondern eine das gesamte Leben (Glaube, Gottesdienst und Alltagsgestaltung) umfassende christliche Lebensform. Nur als ganzheitlicher christlicher Way-of-Life entfaltet sich „orthodox zu sein“ zur ihrer gottgewollten Fülle.

[iv] Typologie, von griechisch: Muster oder Vorbild. Die Typologie Christi als makelloses (Opfer-)Lamm Gottes wurde in einer Weissagung des heiligen Johannes des Täufers vorgeprägt: „Seht das Lamm Gottes, das da trägt die Sünden der Welt“. (….) Es geht hierbei um die heilgeschichtliche Funktion und Handlungsweise, die Christus als der „Menschensohn“ in Seinem Kreuzesleiden erfüllt hat und das bereits in den Weissagungen der heiligen alttestamentlichen Propheten vorherverkündet wurde.

[v] Sobornost – vom altslawischen Verb sobirati = versammeln. Gerade slawische orthodoxe Theologen, vor allem in der russischen westlichen Diaspora, verstehen den griechischen Ausdruck: „katholike ekklesia“ im orthodoxen Glaubensbekenntnisses dahingehend, dass die Kirche eine die Liturgie in rechtem Ausdruck und Frömmigkeit feiernde Versammlung ist. Darüber hinaus verweist der Begriff Sobornost (Sobor = Synodos = Synode, Konzil) auch auf ein wichtiges strukturelles Grundprinzip der Katholizität: Versammeltheit als Synodalität in gesamten kirchlichen Organismus und der Entfaltung seines kirchlichen Lebens.

 

Christus, das Lamm Gottes - spätantikes christliches Mosaik aus Ravenna (Italien).
Christus, das Lamm Gottes - spätantikes christliches Mosaik aus Ravenna (Italien).

 

Auch im Zentrum dieser Ikone ist das im Kelch (eigentlich einem schalenförmigen Diskos) liegende Christuskind abgebildet. Diese Darstellung, die sich auch oft auf dem Diskos[i] selbst befindet, heißt im griechischen „Melismos“ (von melizein = zerschneiden“).

 



[i] Diskos = orthodoxe liturgische Schale für das eucharistische Brot. Sie ist im Gegensatz zur abendländischen Patene mit einem Fuß versehen.

 

 

 

Diese Darstellung Christi weist auf die liturgischen Vollzüge der Proskomidie[i] hin.

Hierbei ist es für uns zunächst einmal wichtig zu verstehen, dass sich nach orthodoxem Verständnis die pneumatische Wandlung der eucharistischen Gaben in den wirklichen und allheiligen Leib Christi und Sein wirkliches und kostbares Blut nicht punktuell bei dem Sprechen der Abendmahlsworte[ii], sondern hingegen prozessual während der gesamten Feier der Göttlichen Liturgie[iii] vollzieht und dann mit dem Gebet um das Herabkommen des Heiligen Geiste „auf uns und diese Gaben“ in der Epiklese[iv] seine abschließende Vollendung findet.

 

Wie der Vollzug aller Göttlichen Sakramente[v], so ist die Feier der heiligen Eucharistie in der Göttlichen Liturgie ein anbetender Vollzug eines himmlischen Geschehens. Für uns Menschen ist und bleibt diese mystische Feier jedoch immer einen Geheimnis Gottes. Wir können es anbetend vollziehen, aber niemals in seiner ganzen Tiefe und Größe begreifen, geschweige denn in theologischen Begriffen definieren.

Insofern ist diese Ikone wie jede orthodoxe Ikone, die sich dem orthodoxen Gläubigen im betenden Schauen des Glaubensgeheimnisses als einem Fester zur himmlischen Wirklichkeit erschließt, Zeugnis des in der göttlichen Eucharistie stattfindenden sakramentalen Geschehens.

 

Im Zentrum der Ikone steht der eucharistische Christus. Gott Vater sendet den Heiligen Geist auf die Gaben herab und verwandelt sie im Gebet der Epiklese in den allheiligen Leib und das kostbare Blut Christi.

Dies ist im zentralen Kreissegment dieser Ikone und im darüber liegenden Kreissegment dargestellt. Die kreisförmige Darstellungsform verweist zeichenhaft auf die Fülle des sakramentalen Geschehens, das die Cherubim[vi] im oberen Segment und die Seraphim[vii] im unteren Segment anbetend verehren. Deshalb ist die Beischrift des oberen Kreissegmentes: „Gott inmitten Seiner himmlischen Kräfte“.

 

Der kreuzförmige Sternbogen über dem Christusknaben auf dem Diskos verweist auf die Inkarnation der Gottesssohnes und Sein erlösendes Kreuzesleiden. Wie Christus in Bethlehem in die „Krippe unvernünftiger Tiere“ gelegt wurde, so nimmt Er durch den Empfang der heiligen Eucharistie auch „mit dem Vater und dem Geiste“ im Herzen des Gläubigen Wohnung. Jede Teilnahme an der heiligen Kommunion bedeutet immer eine geistliche Einwohnung des Dreieinigen Gottes in den Herzen und Seelen der kommunizierenden Gläubigen, wenn sie denn vorbereitet und in gläubiger Gesinnung zum Kelch des Heiles hinzutreten. Auf den Vollzug diese Mysterions haben sich die kommunizierenden Gläubigen deshalb durch die „Gebetsregel vor dem Empfang der heiligen Kommunion“, also das Lesen des Kommunionkanons und der Kommuniongebete vorbereitet. Auch diese Gebetsregel gehört, wie die Gebete der Zelebranten vor dem Ikonostas zum Eintritt in das Heiligtum und beim Anlegen der liturgischen Gewänder bereits zum Vollzug der Göttlichen Liturgie in der all dies zu einer geistlich erfahrbaren Realität wird.



[i] Die Feier der Göttlichen Liturgie gliedert sich in die Zurüstung der Abendmahlsgaben (Proskomidie), den Gottesdienst der Wortverkündigung (Liturgie der Katechumenen) und den Gottesdienst der eucharistischen Darbringung und Kommunion (Liturgie der Gläubigen).

 

[ii]  Im abendländisch-theologischen Kontext auch „Einsetzungsworte“ genannt.

 

[iii]  Nach orthodoxer Vorstellung ist jeder Gottesdienst ein Werk des gesamten versammelten Gottesvolkes, der Priester und auch der Laien. Der geweihte Priester ist dabei Zeuge der auf Christus selbst zurückgehenden und durch die unverfälschte apostolische Gottesdienst- und Lehrüberlieferung treu bewahrten Grundlegung der Kirche und der in ihr gefeierten  Sakramente, während die versammelten Gläubigen (Laos = Volk Gottes) die Katholizität und Übereinstimmung der Liturgiefeier mit der geistlichen Überlieferung (= der Heiligen Tradition) bekennt. Deshalb kann in der orthodoxen Kirche die Göttliche Liturgie weder ohne den geweihten Priester, noch ohne das versammelte Gottesvolk vollzogen werden. Beide vereinen sich im wechselnden und aufeinander bezogenen Gebet zum vom Wirken des Heiligen Geistes erfüllten orthodoxen Gottesdienst.

 

[iv]  Gebet in Liturgie der Gläubigen. Dieses Gebet schließt die Opferung (Anaphora) ab und leitet mit dem folgenden Vater Unser zur Kommunion über. Der Priester bittet, dass der Heilige Geist auf die vorliegenden Gaben herabkommen möge und sie in den heiligen Leib und das kostbare Blut Christi verwandeln möge. Zugleich ist die Epiklese auch eine Bitte um die pneumatische Wandlung der versammelten Gemeinde in den mystischen Leib Christi auf Erden, so dass die Gemeinde als die Heiligen, das Heilige, also die verwandelten eucharistischen Gaben, würdig empfangen können.

 

[v] Die orthodoxen Christen sprechen lieber von Mysterion (russisch: Tainstwo) als von Sakrament. Die Siebenzahl der Sakramente wurde erst im Laufe der späteren Kirchengeschichte von der orthodoxen Kirche akzeptiert. Über die sieben Sakramente (Taufe, Firmung (Myronsalbung), Eucharistie, Beichte, Eheschließung (Krönung), Priesterweihe (Handauflegung) und Krankensalbung (Mysterion des geheiligten Öls)) hinaus, werden in der orthodoxen Kirche zum Beispiel auch die Große Wasserweihe an Theophanie, die Weihe eines Altars und einer Kirche, die Mönchsweihe, die Königskrönung und die Ikonenweihe zu den orthodoxen Mysterien gezählt.

 

[vi]  vgl.: Jesaja 6:2-7

 

[vii]  vgl.: Ezechiel 1:4-28 und 10:1-17; Apokalypse 4:6-11; Psalm 18:11 und Psalm 80:1

 

 

Rechts und links der zentralen Darstellung sind in zwei weiteren Kreissegmenten wichtige Teile der Proskomidie, der Zurüstung der eucharistischen Opfergaben, dargestellt. Diese Zurüstung ist bereits Teil des eucharistischen Vollzuges. Sie wird ganz zu Beginn der Göttlichen Liturgie vollzogen. In dieser Zeit wird für die Gläubigen die Stundenlesung (bei den Russen) oder der Orthros (Morgenamt bei den Griechen, Südslawen, Rumänen, Arabern und Georgiern) vorgetragen, so dass sich die Proskomidie unhörbar für die Laien im Kirchenschiff vollzieht.

 

Die Darstellung des Lammes auf dieser Ikone, das der Engel[i] im linken Kreissegment schert, ist nur ein bildhafter (typologischer) Hinweis auf die alttestamentlichen Prophetien auf den kommenden Christus.

Der Priester nimmt in der Proskomidie die Lanze[ii] in die rechte Hand und die schönste und größte der Prosphoren (nur bei den Russen, bei den Griechen und den ihrer Tradition folgenden orthodoxen Lokalkirchen wird nur eine große Prosphore zur Proskomidie verwendet) in seine linke. Dann bekreuzigt er dreimal mit der Lanze die Prosphora und spricht dabei: „Zum Gedächtnis unseres Herrn und Gottes und Erlösers Jesus Christus“. Dann legt er die Prosphore auf den Rüsttisch und schneidet mit der Lanze in die rechte Seite neben dem Siegelabdruck auf der Prosphora. Dabei spricht er: „Er wurde wie ein Lamm zum Schlachten geführt“ (Jesaja 53:7, parallel Apostelgeschichte 8:32) Dies ist auf rechten Seite der Ikone im Kreissegment dargestellt, wo ein Engel das lanzenförmige Messer in  den Christusknaben senkt. Denn das eucharistische Lamm (griechisch: „Amnos“, slawisch: „Agnez“) wird wieder typologisch-liturgisch durch den Würfel der Opferbrotes dargestellt, das im Vollzug der Proskomidie aus einer der fünf Prosphoren[iii] herausgeschnitten wird. Nur dieses würfelförmige Opferbrot wird sich durch das Wirken des Heiligen Geistes nach dem Gebet[iv] der Epiklese in den allheiligen Leib Christi wandelt haben.

 

Nachdem der Priester auf der rechten Seite den ersten Einschnitt am Siegel vollzogen hat, vollzieht er einen ebensolchen am linken Rand des Siegels. Dabei spricht er: „ Und wie ein makelloses Lamm vor dem Scherer verstummt, tut Er Seinen Mund nicht auf“ (Jesaja 53:7). Diese Geschehen ist im linken Kreissegment dieser Ikone, wo ein Engel das makellose Lamm schert, dargestellt.

 

Danach stößt der Priester die Lanze in den oberen Teil der Prosphore direkt am Siegel und spricht: „In seiner Erniedrigung wurde Sein Urteil gesprochen“ (Jesaja 55:8). Schließlich vollzieht er auch einen solchen Schnitt am unteren Teils des Siegels auf der Prosphore und spricht dabei: „Wer wird Sein Geschlecht zählen“ (Jesaja 53:8). Diese beiden Vollzüge sind nicht auf dieser Ikone dargestellt.

 

Dann stößt der Priester die Lanze in den rechten unteren Teil der Prosphore und hebt der Kubus des Opferbrotes, das „Lamm“ genannt wird, aus der Prosphore heraus. Dabei spricht er: „Denn Sein Leben wurde von der Erde hinweg genommen“ (Jesaja 53:7-8). Dies ist wiederum auf dem mittleren Kreissegment eingeschrieben. Jedoch gibt die Beischrift dieser Ikone drei Zeilen aus der Apostelgeschichte wieder, die diese Worte des heiligen Propheten Jesaja erweitern und deuten: „In der Erniedrigung wurde Seine Verurteilung aufgehoben. Seine Nachkommen, wer kann sie zählen. Denn Sein Leben wurde von der Erde hinweg genommen“ (Apostelgeschichte 8:33). Schließlich wird das Lamm umgedreht und danach  kreuzförmig eingeschnitten. Dabei spricht der Priester: „Geschlachtet wird das Lamm Gottes, das hinweg nimmt die Sünde der Welt für das Heil und das Leben der Welt“.

 

Danach legt es der Priester mit dem dabei unverletzt gelassenen Siegel nach oben auf die Mitte des Diskos und stößt mit der Lanze in die rechte Seite und spricht dabei: „Ein Soldat durchbohrte Seine Seite mit einer Lanze“ (vgl.: Johannes 19:34-37).



[i]  vgl.: Hebräer 1:14 auch Genesis 19:1ff; Sachaja 1:12f.; Lukas 1:8-20; Apostelgeschichte 5:19f. und Apokalypse 8:2ff.

 

[ii]  Zu den orthodoxen liturgischen Gerätschaften zur Feier des heiligen Abendmahls gehören außer Dikos und Kelch auch ein lanzenförmiges Messerchen (heilige Lanze) und ein langstieliger Löffel für die Kommunion der Laien.

 

[iii]  Prosphore – Aus Weizenteig hergestellte orthodoxe Opferbrote. Die Prosphoren sind als Symbol der zwei Naturen Christi als wahrer Gott und wahrer Mensch aus Sauerteig gebacken und aus zwei Teighälften zusammengesetzt. Ober tragen sie ein kreuzförmiges Siegel mit den griechischen Buchstaben: IC XC NI KA = Jesus Christus hat gesiegt. Für die Proskomidie werden nach russischem Brauch fünf Prosphoren verwendet. Nur das würfelförmige Lamm wird in den Leib Christi gewandelt. Die übrigen Prosphoren werden am Ende der Liturgie als Segensgabe (Antidoron) an die anwesenden Christen verteilt. Hierin drückt sich die Agape, die Liebe der Christen untereinander aus.

 

[iv] Nach orthodoxem Verständnis wird alles, was im liturgischen Gebet vor Gott ausgesprochen und mit gläubigem Herzen von Ihm erbeten wird zu einer pneumatisch-geistlichen Realität.

 

 

Dann gießt der Priester Wein und etwas Wasser in den Kelch und spricht dabei: „Und sogleich kam Blut und Wasser heraus. Der es gesehen hat, legt Zeugnis davon ab und sein Zeugnis ist wahrhaftig“ (Johannes 19: 34-35a).

 

Nun folgt im weiteren Verlauf der Proskomidie das Gedächtnis der allheiligen Gottesgebärerin, der übrigen Heiligen, des Patriarchen und des Bischofs der Ortskirche[i] und der Lebenden und bereits zum Herrn Entschlafenen. Für sie alle werden nun Gedenkteilchen auf den Diskos rund um das Lamm gelegt und damit wird die Versammlung (Synaxis) der ganzen heiligen, katholischen und apostolischen Kirche, alle ihrer Gläubigen im  Himmel und auf Erden, der Lebenden und der Entschlafenen um ihr Haupt Christus, der in der Göttlichen Liturgie der „Darbringende und der Dargebrachte“ (so im Eucharistiegebet) ist, typologisch auf dem Diskos abzubilden.

 

Ganz am Ende wird Weihrauch gebracht und der Priester hält den Ateriskus (Kreuz-Stern-Bogen) über den aufsteigenden Weihrauch[ii]. Dann spricht er, während er den Sternbogen auf den Diskos über das Lamm und die Gedenkteilchen setzt: „Und der Stern kam und stand oben über dem Ort, wo das Kind war“ (Matthäus 2:9). Hierbei ist wichtig, dass unsere östlichen Väter das Wandlungsgeschehen in der heiligen Eucharistie gern mit dem Geheimnis der Inkarnation des Logos verglichen. Der Vollzug der Göttlichen Eucharistie ist eben kein liturgischer Zauber, sondern Teil des Erlösungsgeschehens in Christo, dass sich durch den Vollzug der heiligen Mysterien der Kirche damit auch an unserer Person vollzieht. Erlösung ist nach orthodoxem Verständnis keine relationales Rechtfertigungsgeschehen (so vor allem die pietistisch-protestantische und protestantisch-freikirchliche Vorstellung[iii]), sondern eine gnadenhaftes Teilhaftigwerden an der Heiligkeit Gottes (Theosis[iv]) durch unsere sakramentale Verwandlung[v] durch die Gegenwart Christus in uns und unserem gesamten Leben.



[i] Die orthodoxe Kirche versteht sich als die Eine, Heilige, Katholische uns Apostolische Kirche, die sich in der versammelten Gemeinde in der Feier der heiligen Eucharistie (göttlichen Liturgie) real erfahrbar konkretisiert. Insofern ist es richtig von der orthodoxen Kirche zu sprechen, die sich aber zur Verkündigung der Heilsbotschaft und zur Feier des Gottesdienstes in einer den Menschen vor Ort angemessenen Weise verleiblicht. Insofern ist es eigentlich falsch, von griechisch-orthodoxen, russisch-orthodoxen, serbisch-orthodoxen, rumänisch-orthodoxen Kirchen etc. zu sprechen. Theologisch richtiger ist es von der christlichen orthodoxen Kirche in Griechenland, Russland, Serbien, Rumänien etc. zu sprechen.

 

[ii]  Der orthodoxe Gottesdienst wendet sich ganzheitlich an den Menschen. Er spricht ihm mit allen Sinnen an und führt ihn dadurch zur Gottesbegegnung. Der weiße aufsteigende Rauch und der damit verbundene Wohlgeruch des Weihrauchs symbolisieren die Verbindung von himmlischer und irdischer Sphäre durch die damit zu Gott aufsteigenden Gebete der Kirche (vgl.: Apokalypse 8:3-5 und Tobit 12:15).

 

[iii]  Für Luthers Theologie stehen Rechtfertigung und Heiligung noch in einem Verhältnis von Ursache und Wirkung. In Luthers Denken kommen aus der Rechtfertigung die guten Werke so hervor, wie der Apfelbaum die Äpfel als Früchte trägt. Erst mit dem Pietismus, vor allem dann aber in gewissen freikirchlichen Strömungen vor allem im nordamerikanischen Milieu werden Rechtfertigung und Bekehrung gegenüber den guten Werken des Menschen mehr und mehr unterschieden und als positiv-negativ Verhältnis voneinander abgegrenzt.

 

[iv]  Theosis – Vergöttlichung – Der zentrale Gedanke der orthodoxen Erlösungslehre. Dabei unterliegt das orthodoxe Verständnis der Theosis in der abendländischen Theologie sehr oft dem Missverständnis einer ontologischen Gleichwerdung des Menschen mit Gott. Bei der Theosis geht es aber darum dass der Mensch als Abbild= Ikone das Urbild Gott wiederspiegelt. Um ein Abbild Gottes zu werden und zu sein, wurde der Mensch einstmals erschaffen. Erst der Sündenfall hat diese Ikonenhafte Existenz des Menschen verdunkelt, jedoch nicht vernichtet. Um das gefallen Bild Gottes im Menschen wieder aufzurichten, ist Christus zu unserer erlösung auf die Welt gekommen. Der Sohn Gottes ist zu unserer Erlösung Mensch geworden. Christus wurde so für uns zum „zweiten Adam“. Christus hat  in seiner vollkommenen heiligen menschlichen Natur die Erlösung bereits für uns vollzogen, indem er die Passion und den Tod am Kreuz auf sich nahm. Danach bahnte er der gesamten Menschheit den Weg ins Paradies durch seine lichte heilige Auferstehung. Im Empfang der heiligen Taufe sind auch wir Christgläubigen mit dieser ganz vergöttlichten menschlichen Natur Christi überkleidet worden („Alle die auf Christus seid getauft, ihr habt Christus angezogen“). Im Laufe unseres Lebens ist es die Aufgabe eines jeden Christenmenschen, durch ein ernsthaftes geistlich-asketisches Leben diese in der Taufe bereits gegebene Gnade zu aktualisieren und soweit als möglich christusförmig zu werden, also die Heiligkeit zu erlangen. Doch bleibt die Gabe der Heiligkeit bei allem möglichen Zusammenwirken des einzelnen Menschen mit dem Willen Gottes (Synergeia) steht alleiniges Geschenk der Gnade Gottes und ist niemals Verdienst des an seiner Erlösung mitwirkenden Menschen.

 

[v] Die orthodoxe Kirche bekennt, dass in der heiligen Eucharistie der wahre Leib und das wahre Blut Christi empfangen werden. Insofern weiß sich die orthodoxe Kirche mit der katholischen Kirche in Bezug auf den eindeutigen Glauben an die wirkliche Gegenwart Christi in den allheiligen Gaben ganz einig. Jedoch lehnt die orthodoxe Kirche mehrheitlich die römische Transsubstantiationslehre als scholastischen Erklärungsversuch des göttlichen Geheimnisses ab. Wir orthodoxen Christen wissen und bekennen, dass es der wahre und wirkliche Leib Christi und Sein kostbares und erlösendes Blut sind, das wir in der heiligen Kommunion empfangen. Wie sich das Geheimnis im Einzelnen vollzieht, ist und bleibt für uns Menschen immer ein Mysterion, ein Geheimnis Gottes.

 

 

So wie die Offenbarung unseres Heiles mit dem Kommen des Gottessohnes im Fleische begann, sich im Kommen des Heiligen Geistes zu Pfingsten in ganzer Fülle erwies und sich in der Wiederkunft Christi für alle Menschen, die jemals gelebt haben, in ganzer Erhabenheit und Herrlichkeit zeigen wird, so entfaltet sich nun auch in der Feier der Göttlichen Liturgie von der Proskomidie bis zur Wandlung und Heiligen Kommunion das Offenbarwerden die eucharistischen Gegenwart des auferstandenen Herrn inmitten seiner Jünger (der orthodoxen Kirche). Dies vollzieht sich aber immmer im gegenwärtig werden des Mysterions, des Geheimnis des Glaubens

 

Deshalb werden Kelch und Diskos zum Abschluss der Proskomidie mit kleinen Decken (Aer[i]) verhüllt und darüber wird dann das große Velum gedeckt. Danach werden die eucharistischen Gaben, die den zu uns dann in der Kommunion[ii] kommenden Christus bereits symbolhaft abbilden, beweihräuchert.

 

Dass unser erbarmungsreicher Gott unseren Herrn und Erlöser und Wohltäter Jesus Christus als Brot vom Himmel und Speise für die ganze Welt zu uns gesandt hat, wissen wir durch das Zeugnis der Frohen Botschaft des heiligen Evangeliums. Deshalb sind in den strahlenförmigen Eckzwickeln der ein Kreuz[iii] abbildenden Kreissegmente die Strahlen einer roten sternförmigen vierzackigen Mandorla“[iv] mit den Evangelisten-Symbolen eingezeichnet. Dieser insgesamt stern- und rosettenförmige Heiligenschein (Mandorla) aus miteinander verbundenen kreis- und strahlenförmigen Elementen findet sich auf vielen orthodoxen Ikonen, die Gott in Seiner transzendenten Herrlichkeit darstellen.

 

Die bekanntesten sind die weitverbreiteten ikonographischen Darstellungstypen „Christus-in-den-himmlischen-Mächten“ (Spas na Silach) und der Gottesmutter-Ikone „Unverbrennbarer-Dornbusch“. Auf dieser, in ikonographischer Hinsicht besonders interessanten Ikone „Gottes großes Sakrament“ - wie auf den beiden anderen genannten Ikonentypen -  sind in die Zacken der sternförmigen Mandorla die tetramorphen[v] Symbole der vier heiligen Evangelisten eingeschrieben: Engel (Matthäus), Adler (Johannes), geflügelter Löwe (Markus) und geflügelter Stier (Lukas).

 

Nach der typologischen Deutung des heiligen Märtyrer-Bischofs Irenäus von Lyon repräsentieren die vier Evangelien-Symbole zugleich auch die wichtigen Heilstaten Christi: Engel (Der eingeborene Sohn Gottes wurde Mensch durch das Wort des Engels an die allheilige Immerjungfrau Maria), geflügelter Stier (Das Opfertier verweist uns auf das erlösende Selbstopfer Christi), geflügelter Löwe (verweist uns auf Christi Tugenden im Leiden und Seine glorreiche Auferstehung) und der Adler (verweist uns auf die Himmelfahrt Christi).

Thomas Zmija v. Gojan


[i] Kreuzförmig geschnittene Decken, die bis zum Fuß von Kelch und Diskos reichen.

 

[ii] Kommunion, von lateinisch „communio“ = Gemeinschaft mit Gott und der versammelten Gemeinde.

[iii] vgl.: Epheser 1:7; Galater 3:13 und Hebräer 2:14f.

 

[iv] Diese sternförmige Mandorla stellt ein besonderes ikonographisches Symbol der göttlichen Herrlichkeit dar. Es dient der ikonographischen  Abbildung  von etwas, was für die menschliche geistige Auffassungsfähigkeit nicht zugänglich, begreifbar und aussagbar bleibt und deshalb einerseits des ehrfürchtigen menschlichen Schweigens bedarf, anderseits aber im die Herrlichkeit Gottes lobpreisenden Bildsymbol ikonographisch abbildbar ist: die ungeschaffenen Energien Gottes. Der heilige Dionysios Areopagita fasst dies in die Worte, dass Gott den Menschen vom Himmel herab Seine Erleuchtung sendet, die verborgen ist hinter einem Vorhang aus Bildern, Symbolen und Zeichen. Das Strahlen des ungeschaffenen innergöttlichen Lichtes wurde auf Erden sichtbar durch die Gottesoffenbarung (Theophanie) unseres Herrn Jesus Christus im göttlichen Tabor-Licht. Auf den heiligen Ikonen wird das ungeschaffene Taborlicht jedoch als ein „lichterfülltes Dunkel“ dargestellt, das heißt, das Licht wird in einer Madorla (Heiligenschein) zur Lichtquelle Christus hin von Weiß zu Dunkelblau abgedunkelt. Die ist der  ikonographische Hinweis darauf, dass für uns Menschen - aber auch für die heiligen Engel - das Wesen Gottes immer unergründlich und nicht begreifbar bleiben wird, mögen wir mit unseren Augen Sein immerwährendes göttliches Licht, das beständig den gesamten Kosmos erleuchtet, erhält und durchwaltet, auch gnadenhaft schauen, „soweit wir es zu fassen vermögen“ (Tropar der Verklärung Christi). Während das Taborlicht ikonographisch von leuchtendem Weiß (Habakuk 3:4; Matthäus 28:3 - Symbol der Göttlichkeit Christi) bis dunklem Blau (Symbol der Ewigkeit) abgedunkelt wird, sind die  Strahlen der sternförmigen Mandorla von leuchtend feuerroter Farbgebung als ikonographisches Symbol der die gesamte Schöpfung durchwaltenden ungeschaffenen feurigen Energien Gottes.

 

[v]  Tetramorph – vierförmiges, viergestaltiges Wesen nach Ezechiel 1:5-25, Daniel 7 und Apokalypse 4:6-8.